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Frei sein

 
Frei ist jeder Stein, der im Bachbett liegt, den das Wasser in seinem steten Fluss umspült und ihn zu seiner runden Beschaffenheit formt.
Frei ist der Specht, der im Baum seine Nahrung aus dem Stamm klopft und im Schutz der Höhe auf die Wurzeln blicken kann.
Frei ist das Korn im Wind auf dem Feld, wo es im gleißenden Licht der Sonne wachsen kann.
Frei ist kaum ein Mensch.
Unfrei macht sich der Mensch selbst.
Nur er kann sich verblenden und sich damit gegen sich selbst wenden.
Nur er kann intellektuelle Konstrukte schaffen, in denen er meint Logik zu entwickeln und anzuwenden und das Leben seiner Macht und Kontrolle zu unterwerfen.
Nur er kann nicht einfach „sein“ und muss sich gegen den Fluss stemmen.
Frei ist der Mensch nur, wenn er dem Fluss vertraut - wie alles Leben. In seinem Strom könnte der Mensch sich tragen lassen und jedes Ziel erreichen.
Doch er baut Mauern um den Fluss, weil es seine Vorstellung übersteigt, sich ihm anvertrauen zu können. So bindet er sich an Ängste und kettet sich an das, was er meint zu kennen: seine Vorstellungen und Interpretationen seiner kleinen Welt, gesehen durch seine beiden Augen, aber niemals in jener unerschöpflichen Facette, wie es tatsächlich ist. Diese begrenzte Welt kann niemals offen sein für einen mächtigen Fluss, sondern nur für Ströme, die ihn hinführen, wohin er subjektiv denkt.
Frei ist der Mensch, wenn er seine Ängste überwindet und sein Herz öffnet. Wenn das Licht sich in sein Innerstes senkt und es erfüllt, so wie jede Ähre erfüllt ist, jedes Reh und jedes Farn. Dann kann der Mensch wachsen, wie der Weizen auf fruchtbarem Boden, umschmeichelt und geborgen von einer Sonne, deren Strahlen seine Tiefen aus dem Dunkeln führen, ihn wärmen, hüten und leiten.
Frei ist der Mensch, wenn er die Kälte und Leere, die Aussichtslosigkeit und Trostlosigkeit hinter sich gelassen hat, Vertrauen findet und tief in ihm etwas glüht, das ihm auf dem Weg seiner Sehnsucht Triebfeder und Schutz ist.
Frei ist der Mensch, kann er sich finden in Liebe und Geborgenheit, seine Maske ablegen und seine Miene durch jenes Glück erhellen, das durch das Leuchten der Seele zum Ausdruck kommt.
Frei ist der Mensch, wenn er durch sich selbst die Welt um ihn herum erhellt.
Was wäre das für ein wunderbarer Anblick, könnte jeder Mensch so beseelt die Nacht zum Funkeln bringen.
Es wäre ein Meer leuchtenden Friedens, als würden sich Sterne an die Erde schmiegen.
Es wäre, als läge in jedem Korn eine strahlende Seele, die golden dem Himmel entgegenstrebt.
Im Fluss des Vertrauens zu sein, ohne Ängste und Not, ohne Feindschaft und Neid, umsorgt mit allem, was es braucht um ein friedvolles Leben zu leben, wäre die ultimative Freiheit eines Menschen auf seinem Weg zu seinem Ursprung.
Sich diesem Vertrauen hinzugeben, im Wissen um diese Kraft, dieses Feuer in sich selbst, ist der wohl größte Mut, den ein Mensch aufbringen kann, der einsamste Weg, den er gehen kann, im Strom gegen alles, was der Mensch geschaffen hat, um sich über das zu erheben, was er meint, unter sich stellen und beherrschen zu müssen.
Frei ist der Mensch, wenn er noch denken und fühlen kann, wie ein Kind.
In Kindern schwingt noch dieses Empfinden für das Wunder des Lebens und des Urvertrauens.
In Kindern lebt noch jener Funke, den wir im weiteren Menschsein vergessen wollen.
Damit machen wir uns leerer und unfreier als es jeder beliebige, leblos wirkende Stein zu sein scheint.
 

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© Copyright 2007 Michaela Thanheuser